Mehr als Betreuung - Bindung, Bildung und Geborgenheit und was ein Verlust von Kindertagespflege bedeutet

©Myriams-Fotos_Pixabay

Eine wunderbare, beispielhafte Szene eines Betreuungstages in der Kindertagespflege von Yvonne Löffler:

Passend zur Jahreszeit spielen die Kinder Urlaub. Ganz praktisch und mit allem Drum und Dran; vom Check-in am „Flughafen“, wo die Koffer über eine Rutsche rutschen dürfen, über die Sicherheitskontrolle, bei der durch einen Spieltunnel gekrabbelt wird, bis zum Boardservice, bei dem Yvonne Löffler leckere Getränke und einen Snack reicht, ist alles dabei. Hier wird in ihrem Garten in Augustusburg mit Fantasie gereist, geforscht, gelacht und entspannt. Und das mit einer pädagogischen Tiefe, die beeindruckt.

Yvonne_Löffler.JPG © Claudia Dohle - Freie Presse

Mehr über Frau Löfflers Arbeit, über ihre Wünsche und Sorgen lesen Sie hier: https://www.freiepresse.de/mittelsachsen/floeha/das-maeusestuebchen-braucht-neue-maeuse-sonst-wird-es-still-augustusburger-tagesmutter-hat-existenzangst-artikel13898596

Aber was genau passiert da in der Kindertagespflege, was auf dem ersten Blick eigentlich „nur“ nach spielen und nachahmen aussieht?

Warum die Beziehung das Herzstück ist

In den ersten Lebensjahren sind stabile, verlässliche Bindungen essenziell für die kindliche Entwicklung. Sie schaffen das sichere Fundament, auf dem jedes Lernen, Wachsen und Weltentdecken erst möglich werden (vgl. Bowlby, J. (1988). A Secure Base: Parent-Child Attachment and Healthy Human Development oder Ahnert, L. (2010). Frühkindliche Bindung: Grundlagen für die pädagogische Praxis).

Kindertagespflege ist für Kinder unter drei Jahren die Betreuung, die den Bedürfnissen der ganz Kleinen besonders gut entsprechen kann. Durch ihre kleine Gruppengröße von maximal 5 Kindern und der kontinuierlichen Betreuung durch eine feste Bezugsperson bietet sie ideale Rahmenbedingungen. Es entsteht für die erste außerhäusige Betreuung eine überschaubare Situation mit geringer Lautstärke und Reizdichte. Darüber hinaus zeichnet sich dieses Betreuungssetting durch eine vertraute, fast familiäre Atmosphäre aus – und genau darin liegt ihre große Stärke.

Dieses hohe Qualitätsmerkmal ist jedoch massiv bedroht.

Wenn Kindertagespflege verschwindet, geht mehr verloren als nur die Plätze

Die Zahl der Kindertagespflegepersonen in Sachsen sinkt seit 2020 dramatisch – von 1.660 im Jahr 2020 auf nur noch 924 im Jahr 2025. Diese Statistiken zeigen einen kontinuierlichen Rückgang – ein stilles Sterben einer Betreuungsform, die eigentlich laut gefeiert werden müsste.

Die Gründe sind vielfältig:

  • Ausbauprogramme des Bundes ab 2020 – diese führten zu einer Ausbauwelle von Kindertageseinrichtungen, insbesondere im Krippenbereich
  • Geburtenrückgang seit 2023 und kontinuierliche Schließungen von Kindertagespflegestellen
  • Aufgabe von Kindertagespflegestellen aufgrund des Alters
  • Gleichzeitig keine neuen Kindertagespflegepersonen aufgrund von wenigen Qualifizierungsmöglichkeiten
  • Hinzu kommen strukturelle Hürden: Bürokratie, mangelnde Wertschätzung, teils unzureichende Vergütung.

Wer Kindertagespflege nur als alternative Betreuungsform sieht, übersieht ihren einzigartigen Beitrag für frühkindliche Entwicklung. Geht sie verloren, fehlt auch ein Stück gelebter Beziehungskultur – für Wurzeln, die wachsen und Flügel, die fliegen - im frühpädagogischen Betreuungsalltag.

Was Kindertagespflege wirklich leistet – ein weiterer Blick hinter die Zahlen

Wie tiefgehend die Arbeit von Kindertagespflege wirkt, zeigt auch das 20-jährige Jubiläum von Tagesmutter Simone Hahm aus Pirna, die diesen Tag mit vielen ehemaligen und aktuellen Familien in ihrer Kindertagespflege „Am Windmühlenrad“ feierte. Bei bestem Wetter versammelten sich Kinder, Eltern und Wegbegleiter auf dem Windmühlenhügel hinter dem Haus, um gemeinsam einen besonderen Vormittag zu erleben und in Erinnerungen zu schwelgen.

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© Roberto Rink - Wochenkurier

Mit einer spielerischen Einführung in die Geschichte der Raupe Nimmersatt und dem gemeinsamen Freilassen selbst aufgezogener Schmetterlinge wurde der Zauber der kindlichen Entwicklung greifbar gemacht. Die langjährige Erfahrung, persönliche Bindung zu den Kindern und deren Eltern sowie ihr naturverbundenes Konzept zeigen eindrucksvoll, wie wertvoll und unersetzlich die Bindung und Bildung der stets individuellen Betreuung in der Kindertagespflege ist.

Den Artikel des WochenKuriers zum Jubiläum lesen sie hier: https://www.wochenkurier.info/landkreis-saechsische-schweiz-osterzgebirge/artikel/schmetterlinge-zum-jubilaeum-von-tagesmutti-momo

Diese beiden Beispiele, von Yvonne Löffler und Simone Hahm, sind nur zwei der individuellen Betreuung in der Kindertagespflege. Es gibt noch unzählige andere. Der Alltag ist oft eingebettet in das Dorf- oder Stadtteilleben: z.B. kommt die Tochter der Tagesmutter nach der Schule vorbei, der Mann baut mit den Kindern etwas an der Werkbank, die Nachbarin lässt die Kinder ihre Hühner füttern, der ältere Herr gegenüber schenkt ihnen Erdbeeren aus dem Garten. Der Bäcker grüßt jedes Kind mit Namen, der Bauer fährt mit dem Traktor vorbei oder einmal in der Woche singen die Kinder gemeinsam mit Senioren der Seniorentagespflege.

Diese lebens- und alltagsnahe Bildung ist von unschätzbarem Wert für jedes Kind.

Ein Appell - an alle, die Kindheit gestalten

Diese Qualität, die die Kindertagespflege bietet, darf nicht sterben. Deshalb braucht es nicht nur jetzt klare Zeichen:

  • An Kommunen: Sehen Sie die Qualität der Kindertagespflege und die Bereicherung für Ihre Stadt. Unterstützen Sie sichere Rahmenbedingungen - mit Wertschätzung und Achtung. Belassen sie die Plätze der Kindertagespflege im Bedarfsplan und in der Finanzierung.
  • An Eltern: Vertrauen Sie auf Ihr Gefühl. Sprechen Sie mit anderen Eltern, lernen Sie Kindertagespflegestellen kennen, erleben Sie den Alltag einmal selbst und wenn sich das für Ihr Kind richtig anfühlt, haben Sie den Mut, Ihr Wunsch- und Wahlrecht einzufordern.
  • An die Politik und die Gesellschaft: Kindertagespflege ist kein Auslaufmodell – sie ist eine Investition in eine stabile, gesunde Kindheit und eine vielfältige Bildungslandschaft. Wir können von dieser individuellen selbstständigen Tätigkeit so viel lernen.

Simone Hahms 20-jähriges Jubiläum ist nicht nur ein persönlicher Meilenstein – es ist ein wichtiger Anlass, hinzuschauen, wertzuschätzen und zu handeln.

Denn Kindertagespflege ist mehr als Betreuung. Sie ist eine wertvolle frühkindliche Bildungseinrichtung, sie stärkt Beziehung - die Voraussetzung für eine sichere Bindung. So entstehen Wurzeln, die die Kinder stark ins Leben gehen lassen und die ihnen Flügel wachsen lassen. Genau wie die Schmetterlinge, denen Aufmerksamkeit, Fürsorge, Geborgenheit und Freiheit geschenkt wurden.

Vielen Dank an alle Tagesmütter und Tagesväter in Sachsen für Ihre so wertvolle Arbeit!